ADHS als Geschenk: Vorteile der Erkrankung erkennen und einsetzen

»Die Diagnose und Behandlung von ADHS kann ein Leben voller Frustation und Misserfolg in ein Leben voller Erfüllung und Freude verwandeln.« Das sagt einer, der es wissen muss: Dr. Edward Hallowell gilt als Kapazität auf diesem Gebiet. Der Psychiater ist selbst von ADHS betroffen. Inzwischen hat der 75-Jährige mehr als 20 Bücher darüber geschrieben. Dabei lautet sein Ansatz nicht, die Störung – er selbst spricht lieber von einer Eigenschaft – »nur« zu bekämpfen, sondern sie zu nutzen.

Hat ADHS Vorteile?

Ja, ADHS hat laut Psychiater Dr. Edward Hallowell neben Nachteilen auch erhebliche Vorteile, die oft übersehen werden. »Um zu verstehen, worum es bei ADHS geht, müssen Sie wissen, dass jedes nachteilige Merkmal einen Vorteil hat, der genauso stark, wenn nicht sogar noch stärker ist. Der Vorteil der Ablenkbarkeit ist beispielsweise die Neugier«, schreibt er in seinem Buch »ADHS einfach erklärt. Infos, Tipps und Tricks für mehr Lebensqualität«, DK Verlag. Wer sich der nicht wenigen negativen Auswirkungen bewusst sei und diese aktiv bekämpfe, könne sich ganz auf die positiven konzentrieren und sie gezielt einsetzen. ADHS-Betroffene dürften mehrheitlich gleichwohl erst einmal schlucken müssen, wenn sie lesen, dass er in diesem Zusammenhang gar von einem »Geschenk« spricht, »das nur darauf wartet, ausgepackt zu werden«.

Doch seine Begründung überzeugt. Zwar würden Menschen mit ADHS auffallend oft die Schule oder ihr Studium abbrechen und wechselten häufig den Job, weil sie sich nicht lange mit subjektiv Unwichtigem beschäftigen können und jede Art von Routine hassen. Doch ADHS stehe damit eben nicht automatisch für Versagen und Abwärtsspirale. Denn die Fähigkeit, sich voll und ganz auf etwas Interessantes konzentrieren zu können, unkonventionelle, kreative Herangehensweisen also, lassen Betroffene durchaus Großes erreichen. Es gelte, das Negative ins Positive umzukehren und lediglich das, was sich nicht umkehren lasse, zu behandeln, also zu unterdrücken.

Das Problem: Viele wissen überhaupt nicht, dass sie ADHS haben, und werden entsprechend wegen ganz anderer Krankheiten mit teilweise ähnlichen Symptomen behandelt, Depressionen beispielsweise. Hallowell glaubt, dass gerade einmal ein Viertel aller betroffenen Erwachsenen Bescheid weiß. Grund dafür seien natürlich auch die Vorurteile und die Stigmatisierungen, die sich hartnäckig hielten. Doch ADHS sei eben viel mehr als der Zappelphilipp in der Schule. Wissenschaftlicher Konsens ist, dass sich die Störung bei einem ganz erheblichen Teil der hyperaktiven und/oder aufmerksamkeitsgestörten Kinder und Jugendlichen nicht während der Pubertät auswächst, sondern im Erwachsenenalter bleibt, dann aber ein wenig anders äußert. Das erschwert die Diagnose zusätzlich – vor allem, wenn sie in jungen Jahren gar nicht gestellt wurde. Doch erst mit dem Bewusstsein, diese so häufig missverstandene neurologische Erkrankung in sich zu tragen, sagt der Experte, könne sich etwas ändern, und zwar nicht nur im Privatleben.

Welche Berufe eignen sich gut für Menschen mit ADHS?

Die Fähigkeit, in Stresssituationen besser zu »funktionieren« als der Durchschnitt, lässt nicht wenige Menschen mit ADHS entsprechend »aufregende« Berufe ergreifen: Notärztin zum Beispiel oder Notfallsanitäter; ihre ausgesprochen kreative Ader führt andere in die Forschung oder in die Kunst – meist überaus erfolgreich. Denn so können sie ihr Gehirn, das völlig anders tickt als ein »normales«, am besten nutzen. ADHS-Experte Edward Hallowell bringt das wie folgt auf den Punkt: »Wie der Motor eines Ferrari verfügt das ADHS-Gehirn über eine außergewöhnliche Leistungsfähigkeit. Es ist viel schneller als das durchschnittliche Gehirn. Aber es gibt ein Problem: Dieses Ferrari-Gehirn besitzt nur Fahrradbremsen.« Die eigentliche Herausforderung sei daher, diese außergewöhnliche Leistungsfähigkeit zu kontrollieren und richtig einzusetzen.